Sonntag, 10. November 2019
„Sozialistische“ Ökonomie – 30 Jahre später
Der 30. Jahrestag des Mauerfalls ermuntert zum Rückblick.
Als 1989 erst das ökonomische System des „real existierenden Sozialismus“, dann dessen gesellschaftliche und schließlich politische Basis zusammenbrach, fragte ich mich nach den ökonomischen Ursachen dafür. Ich wünschte mir z.B. von dem marxistischen Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel eine Analyse des Scheiterns. Die blieb leider aus. Erklärungen für den Zusammenbruch des DDR-Systems fand ich dann weniger in hochgestochenen Wirtschafts- oder Gesellschaftstheorien. Stattdessen stellten sie sich für mich als erschreckend banal heraus.

Bei einem Besuch in Halle Januar 1991 machte ein Bekannter mich auf den katastrophalen Zustand der Stadt aufmerksam. Zunächst bemerkte ich, dass auf der Straße unvermutet die Straßenbahnschienen zu vibrieren begannen. Die Möglichkeit eines Erdbebens schloss ich aus. Aber dann näherte sich ein Zug. Die Schienen waren so losen und der Unterbau so marode, dass sie sich trotz niedriger Geschwindigkeit um Zentimeter hoben und senkten. Die oberen Stockwerke der älteren Häuser in der Innenstadt waren unbewohnt bzw. unbewohnbar. Die Dächer waren so marode, dass es von Stockwerk zu Stockwerk immer weiter hinunter durchregnete. Die Läden im Parterre waren sowieso geschlossen, nur noch die ersten Stockwerke waren bewohnt.

Bei einer geführten Busfahrt (November 1991) durch die Bitterfelder Industrieanlagen bot sich uns ein erschreckendes Bild. Der Umweltbeauftragte des Bezirks Halle zeigte uns, wie heruntergekommen die Anlagen waren. Dass Chemie stinkt, wusste ich vorher. Dass sie so stinken kann, erfuhr ich erst jetzt. Undichte Rohre mit kaputter Isolierung, herunterhängender Glaswolle überquerten die öffentlichen Straßen. Flüssigkeiten tropften auf die Straße. Überall zischte und dampfte es. Abfall und defekte Anlagenteile lagerten in jedem Winkel.

Die totale Überorganisation der DDR-Planwirtschaft – gar nicht sozialistisch, sondern sehr deutsch – erzeugte Reibungsverluste im Übermaß und war schließlich verhängnisvoll. Diese These entstand durch diverse Gespräche mit Bekannten aus der Ex-DDR. Hier einige Beispiele:
• Im DDR-Film- und Kinosystem waren alle Beteiligten fest angestellt. In der Filmproduktion erzeugte Reibungsverluste: Z.B. Dokumentarfilmer mussten vierteljährlich Exposés oder Drehbücher einreichen. Der Dokumentarfilmer Andreas Voigt erzählte, dass die Faulen unter ihnen sich dieser Aufgabe entledigten, indem sie Scrips einreichten, bei denen sie sicher waren, dass diese aus ideologischen Gründen abgelehnt wurden. Dann hatten sie wieder drei Monate Ruhe.
• Ein Metallarbeiter aus dem Voigtland berichtete aus seinem alten Betrieb: Sie mussten Gewindebolzen mit 10 mm Durchmesser drehen. Als Rohlinge bekamen sie 50-mm-Bolzen. Welche Verschwendung von Material, Werkzeug und Arbeitskraft!
• Nachdem er diesen Missstand in einer Betriebsversammlung angesprochen hatte, beschäftigte sich die STASI mit ihm: wer ihm den Auftrag gegeben habe, Unruhe in die Belegschaft zu tragen. Nicht einmal konstruktive Kritik konnte das System vertragen.
• Er trainierte auch die Betriebs-Fußballmannschaft. Dazu meldete er sich und seine Fußballer bereits mittags, also während der Arbeitszeit, ab.
• Der Betriebs-Zahnarzt einer Rostocker Werft schrieb umfangreiche Bücher über Schifffahrtsgeschichte. Befragt, wie er das in seiner Freizeit bewältigte, erklärte er, er verließe regelmäßig gegen Mittag den Betrieb, weil er kein Amalgam mehr hatte.
• Die Beispiele, dass Frauen während der Arbeitszeit zum Frisör oder Einkaufen gingen – weil es gerade dies oder das und nur heute beim HO gab – wurden schon immer kolportiert.
• In Betrieben und Verwaltungen gab es zwar ein Plansoll, aber kein Controlling. Niemand wusste während eines laufenden Jahres, wieviel Geld eingenommen oder ausgegeben wurde.
Der „Real existierende Sozialismus“ ist also nicht aus wirtschaftsTHEORETISCHEN Ursachen untergegangen, sondern aus dem banalen Grund, dass die DDR-Bürokraten unfähig waren, ihn zu organisieren. Ulrike Herrmann hat in Le Monde diplomatique (9/2019) in dem Artikel „Das DDR-Geschäft“ die Hintergründe des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zusammenbruchs der DDR ausgeleuchtet.

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