Mittwoch, 15. Januar 2025
Sprache und Dialekt
jf.bremen, 18:01h
Sprache ist nicht nur national bzw. kulturell, sondern regional, sozial und geschlechtsspezifisch vermittelt. Diedier Eribon entwickelt das an seiner Person und seiner alten Mutter.
Die ist ungelernte Arbeiterin, lebt in einem Arbeiterviertel, war gewerkschaftlich engagiert und politisch links orientiert. Sie spricht die Sprache ihrer Klasse bzw. Schicht, ihres Wohnumfelds und des spezifischen Betriebs. Ihr Sohn Didier wächst mit ihrem Vorbild und seiner Umgebung auf. Er hat in der Grundschule so gute Zensuren, dass ihm der Besuch des Gymnasiums geraten und ermöglichst wird, anschließend ein Studium und eine akademische Karriere.
Im Laufe dieses Prozesses verändert sich seine Sprache: Er nimmt das Idiom seiner Klassenkameraden und der akademischen Schicht an. Dabei entfernt er sich immer weiter sozial und emotional von seiner Mutter und wird seinen Geschwistern immer fremder. Er erlebt das als belastend und zugleich befreiend.
Bei mir es genau umgekehrt: Kind eines akademischen Elternhauses, Bruder eine Gymnasiastin und Studentin, entferne ich mich von meiner Umgebung. Als die Schwester feststellt, dass seine AltersgenossInnen ihn schneiden, befragt sie Diese. Die Antwort: Der spricht so komisch.
Um den Widerspruch aufzulösen, nahm ich das Kieler Idiom – teilweise übertrieben – an. Auch das Ostpreußisch vieler meiner Klassenkameraden in der Volksschule versuchte ich zu imitieren. Jetzt hieß es von den Eltern: Sprich nicht so ordinär. Meine erste Erfahrung mit der Arbeitswelt als Hafen- und Fabrikarbeiter führt dazu: Die Kollegen fühlten sehr wohl, dass ich mich betont sprachlich „anbiedern“ wollte, und amüsierten sich über mich.
Erst beim Militär löste der Widerspruch sich auch. Die Begegnung mit dem heimatlichen Idiom und zugleich mit dem des Ruhrpotts führte dazu, dass ich beide sprechen konnte. Im Studium musste ich eine Sprechausbildung absolvieren, so dass ich am Ende die deutsche Hochsprache, das Kielerische, das Ostpreußische und den Ruhr-Dialekt ziemlich gut beherrschte.
Meine zeitweilige südhessische Wohnumgebung und der Kontakt nach Schwaben zeigten mir, dass auch Dialekte sozial unterschiedlich sind. In Hessen galt im akademischen Kleinbürgertum eine gewisse Vertrautheit mit dem Dialekt nicht als standeswidrig. Es durfte nur nicht zu breit gesprochen werden. Im Schwäbischen gibt es das „Honoratioren-Schwäbisch“. Es wird von AkademikerInnen wie von PolitikerInnen gesprochen.
Und noch etwas las ich bei Eribon: In den häufigeren Begegnungen mit der alten Mutter – er musste sich um den Pflegefall kümmern – glich er sich wieder deren Idiom an. Bei mir führte das zu einer kleinen schriftstellerischen Arbeit im heimatlichen Milieu und Idiom: „Heino – Geschichten aus dem Kieler Vorstadtkosmos.“
Die ist ungelernte Arbeiterin, lebt in einem Arbeiterviertel, war gewerkschaftlich engagiert und politisch links orientiert. Sie spricht die Sprache ihrer Klasse bzw. Schicht, ihres Wohnumfelds und des spezifischen Betriebs. Ihr Sohn Didier wächst mit ihrem Vorbild und seiner Umgebung auf. Er hat in der Grundschule so gute Zensuren, dass ihm der Besuch des Gymnasiums geraten und ermöglichst wird, anschließend ein Studium und eine akademische Karriere.
Im Laufe dieses Prozesses verändert sich seine Sprache: Er nimmt das Idiom seiner Klassenkameraden und der akademischen Schicht an. Dabei entfernt er sich immer weiter sozial und emotional von seiner Mutter und wird seinen Geschwistern immer fremder. Er erlebt das als belastend und zugleich befreiend.
Bei mir es genau umgekehrt: Kind eines akademischen Elternhauses, Bruder eine Gymnasiastin und Studentin, entferne ich mich von meiner Umgebung. Als die Schwester feststellt, dass seine AltersgenossInnen ihn schneiden, befragt sie Diese. Die Antwort: Der spricht so komisch.
Um den Widerspruch aufzulösen, nahm ich das Kieler Idiom – teilweise übertrieben – an. Auch das Ostpreußisch vieler meiner Klassenkameraden in der Volksschule versuchte ich zu imitieren. Jetzt hieß es von den Eltern: Sprich nicht so ordinär. Meine erste Erfahrung mit der Arbeitswelt als Hafen- und Fabrikarbeiter führt dazu: Die Kollegen fühlten sehr wohl, dass ich mich betont sprachlich „anbiedern“ wollte, und amüsierten sich über mich.
Erst beim Militär löste der Widerspruch sich auch. Die Begegnung mit dem heimatlichen Idiom und zugleich mit dem des Ruhrpotts führte dazu, dass ich beide sprechen konnte. Im Studium musste ich eine Sprechausbildung absolvieren, so dass ich am Ende die deutsche Hochsprache, das Kielerische, das Ostpreußische und den Ruhr-Dialekt ziemlich gut beherrschte.
Meine zeitweilige südhessische Wohnumgebung und der Kontakt nach Schwaben zeigten mir, dass auch Dialekte sozial unterschiedlich sind. In Hessen galt im akademischen Kleinbürgertum eine gewisse Vertrautheit mit dem Dialekt nicht als standeswidrig. Es durfte nur nicht zu breit gesprochen werden. Im Schwäbischen gibt es das „Honoratioren-Schwäbisch“. Es wird von AkademikerInnen wie von PolitikerInnen gesprochen.
Und noch etwas las ich bei Eribon: In den häufigeren Begegnungen mit der alten Mutter – er musste sich um den Pflegefall kümmern – glich er sich wieder deren Idiom an. Bei mir führte das zu einer kleinen schriftstellerischen Arbeit im heimatlichen Milieu und Idiom: „Heino – Geschichten aus dem Kieler Vorstadtkosmos.“
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Sonntag, 5. Januar 2025
Fast eine Kritik: Die Saat des heiligen Feigenbaums
jf.bremen, 18:25h
Dem Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ wurde in Cannes ein Spezialpreis verliehen. Er wurde für den Oscar nominiert. Zu Recht, kann man sagen. Der Film ist hochpolitisch in der gegenwärtigen Situation im Iran und während der Frauenproteste. Wie viele Literatur-, Film- und Kunst-Preise reagiert auch Cannes auf Politik. In der ausverkauften Vorstellung, die der Autor besuchte, quittierte u.a. die iranische Community der Stadt den Film mit Applaus.
Nicht nur politisch, sondern auch filmisch war der Film bedeutsam. Er verband Fiktion mit dokumentarischen Handy-Einspielungen, hatte nachdenkliche sowie Aktion-Passagen. Kritisch sei angemerkt, dass bestimmte Wandlungen der Personen unmotiviert blieben. Warum gab der Vater der Familie seine skeptische Haltung zum Regime der Mullahs auf und stellte seine moralischen Bedenken zurück, wurde zum Erfüllungsgehilfen? Warum hielt die Mutter zunächst zu ihm, wechselte dann auf die Seite der systemkritischen Töchter? Warum hielt die jüngere Tochter die Pistole des Vaters versteckt? Wieso blieb das Auto der Familie trotz der provozierten Karambolagen mit dem verfolgenden Auto unbeschädigt? Dafür bietet der Film keine Antworten.
Gänzliche unwahrscheinlich und überflüssig war die irre Verfolgungsjagt in den Trümmern einer verlassenen Stadt. Sie wurde über Gebühr ausgedehnt, nachdem das Ende – die Erschießung des Vaters – längst absehbar war. Ganz übertrieben, dass der Vater vom Schuss getroffen im Fußboden der Ruine einbrach und das Schlussbild einen Trümmerhaufen zeigt, aus dem ein Arm hervorragte und die Waffe daneben lag. Das Publikum regiert mit kurzem Lacher.
Schade für den Film, der dennoch weitere Beachtung verdient!
Nicht nur politisch, sondern auch filmisch war der Film bedeutsam. Er verband Fiktion mit dokumentarischen Handy-Einspielungen, hatte nachdenkliche sowie Aktion-Passagen. Kritisch sei angemerkt, dass bestimmte Wandlungen der Personen unmotiviert blieben. Warum gab der Vater der Familie seine skeptische Haltung zum Regime der Mullahs auf und stellte seine moralischen Bedenken zurück, wurde zum Erfüllungsgehilfen? Warum hielt die Mutter zunächst zu ihm, wechselte dann auf die Seite der systemkritischen Töchter? Warum hielt die jüngere Tochter die Pistole des Vaters versteckt? Wieso blieb das Auto der Familie trotz der provozierten Karambolagen mit dem verfolgenden Auto unbeschädigt? Dafür bietet der Film keine Antworten.
Gänzliche unwahrscheinlich und überflüssig war die irre Verfolgungsjagt in den Trümmern einer verlassenen Stadt. Sie wurde über Gebühr ausgedehnt, nachdem das Ende – die Erschießung des Vaters – längst absehbar war. Ganz übertrieben, dass der Vater vom Schuss getroffen im Fußboden der Ruine einbrach und das Schlussbild einen Trümmerhaufen zeigt, aus dem ein Arm hervorragte und die Waffe daneben lag. Das Publikum regiert mit kurzem Lacher.
Schade für den Film, der dennoch weitere Beachtung verdient!
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Sonntag, 8. Dezember 2024
Nachrichten von gestern, heute überholt
jf.bremen, 18:36h
Gestern noch rätselten die Medien – so z.B. die taz ganzseitig -, wie es in Syrien weiter gehen könne. Buchstäblich über Nacht war die Frage nicht müßig, aber dennoch „ein alter Hut“. Mit rasender Geschwindigkeit drangen die rebellischen Kräfte von einer Großstadt zur anderen vor und eroberten zuletzt Damaskus.
Diktator Assad machte sich schleunigst aus dem Staub, wahrscheinlich mit Hilfe russischer Streitkräfte nach Moskau, wo er heute schon gesehen wurde.
Wie konnte das passieren? Einmal waren die Rebellen vorzüglich ausgerüstet, gut trainiert, strategisch geschult und vor allem hoch motiviert. Der Plan für den Angriff auf das Assad-Regime und dessen Truppen lag schon länger vor und war effektiv vorbereitet und durchgeführt.
Ganz anders die Regierungsarmee: Sie war mangelhaft ausgerüstet und hatte, das vor allem, eine miserable Motivation. Die Soldaten waren zum großen Teil zwangsrekrutiert, wurden brutal zum Militär und zum Kämpfen gezwungen. Sie wichen daher vor dem Rebellen-Angriff zurück, unter Zurücklassung von Waffen und Gerät. Ganze Einheiten desertierten in das nordöstliche Kurdengebiet oder in den Irak. Sie wie die syrischen Bürgerkriegs-Flüchtlinge im Libanon kehren jetzt zurück. Das sind nicht einzelne, sondern über eine .Million. Sie alle hoffen auf eine bessere und demokratische Zukunft.
Diktator Assad machte sich schleunigst aus dem Staub, wahrscheinlich mit Hilfe russischer Streitkräfte nach Moskau, wo er heute schon gesehen wurde.
Wie konnte das passieren? Einmal waren die Rebellen vorzüglich ausgerüstet, gut trainiert, strategisch geschult und vor allem hoch motiviert. Der Plan für den Angriff auf das Assad-Regime und dessen Truppen lag schon länger vor und war effektiv vorbereitet und durchgeführt.
Ganz anders die Regierungsarmee: Sie war mangelhaft ausgerüstet und hatte, das vor allem, eine miserable Motivation. Die Soldaten waren zum großen Teil zwangsrekrutiert, wurden brutal zum Militär und zum Kämpfen gezwungen. Sie wichen daher vor dem Rebellen-Angriff zurück, unter Zurücklassung von Waffen und Gerät. Ganze Einheiten desertierten in das nordöstliche Kurdengebiet oder in den Irak. Sie wie die syrischen Bürgerkriegs-Flüchtlinge im Libanon kehren jetzt zurück. Das sind nicht einzelne, sondern über eine .Million. Sie alle hoffen auf eine bessere und demokratische Zukunft.
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Warum erst jetzt?
jf.bremen, 18:34h
Es scheint zynisch zu sein, diese Frage zu stellen, aber gerade hat die israelische Regierung die linksliberale Tageszeitung Haaretz mit einer Informationsblockade zu belegen. Erst jetzt, weil andere Medien schon früher blockiert wurden. So z.B. der arabische Fernseh-Kanal Al Jazeera, der im arabischen Raum und darüber hinaus als zuverlässige Informationsquelle gilt, der vor geraumer Zeit für Israel abgeschaltet wurde und damit der palästinensischen Öffentlichkeit eine wichtige Informationsquelle versperrte. Im Land selbst versorgt die Regierung mit Informationen nur noch einen TV-Kanal, den staatseigenen.
Haaretz hatte den Zorn der Regierung durch kritische Leitartikel erregt, in denen der Gasa-Krieg aus einem alternativen Blickwinkel betrachtet wurde. Jetzt wurden die Information zwischen Regierung und Haaretz unterbrochen und Anzeigen verboten. Das betrifft u.a die Informationen über Luftschutzmaßnahmen.
Abgesehen davon, dass das ein radikaler Angriff auf die Meinungsfreiheit ist, erleidet die Zeitung durch den Verlust von Anzeigen erhebliche finanzielle Einbußen.
Haaretz hatte den Zorn der Regierung durch kritische Leitartikel erregt, in denen der Gasa-Krieg aus einem alternativen Blickwinkel betrachtet wurde. Jetzt wurden die Information zwischen Regierung und Haaretz unterbrochen und Anzeigen verboten. Das betrifft u.a die Informationen über Luftschutzmaßnahmen.
Abgesehen davon, dass das ein radikaler Angriff auf die Meinungsfreiheit ist, erleidet die Zeitung durch den Verlust von Anzeigen erhebliche finanzielle Einbußen.
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Freitag, 13. September 2024
Peinlich, peinlich...
jf.bremen, 14:54h
im Beitrag über das Image Bremer Schulen in der Bevölkerung kann die Autorin nicht einmal einen richtigen Genetiv bilden! Es heißt nämlich nicht „von April bis Juni diesen Jahres“ sondern „dieses Jahres“. Man sagt ja auch nicht „der Ball diesen Kindes“, sondern „dieses Kindes.“ Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen.
Antwort der buten-un-binnen-Redaktion: vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Sendung und für Ihre Rückmeldung zu dem Beitrag „ifo: Wie gut sind unsere Schulen?“ vom 10. September 2024. Gerne leite ich Ihre Mail an die Autorin weiter. Bleiben Sie uns gewogen und senden uns gerne wieder Ihre Anmerkungen und Hinweise.
Antwort der buten-un-binnen-Redaktion: vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Sendung und für Ihre Rückmeldung zu dem Beitrag „ifo: Wie gut sind unsere Schulen?“ vom 10. September 2024. Gerne leite ich Ihre Mail an die Autorin weiter. Bleiben Sie uns gewogen und senden uns gerne wieder Ihre Anmerkungen und Hinweise.
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Donnerstag, 30. Mai 2024
Homophobie als unendliche Geschichte
jf.bremen, 12:52h
Zu den High-Lights der Radio-Bremen-Talkshow "Buten un binnen" gehörte in den 80er Jahren die Sendung, als die erzkonservative Pastorengattin Elisabeth Motschmann im bayrischen Trachtenlook neben Rosa von Praunheim auf dem roten Sofa saß. Praunheim löcherte sie, sie solle doch mal was über ihr Sexualleben ausplaudern. Bei dieser, oder anderer Gelegenheit verkündete sie ihre Kennnisse über Homosexuelle: Diese hätten 600 Sex-Partner und träfen sich in öffentlichen Toiletten. Woher sie wohl diese Kenntnis hatte? Lauerte sie damals am Rande des Bremer Bürgerparks vor der Klappe am Stern?
Später - als sie via CDU in den Bundestag einzog - überreichte sie den Staffelstab an ihren fundamentalistischen Gatten, Pastor in der Martini-Gemeinde, der ihn an seinen ebenfalls fundamentalistischen Nachfolger Olaf Glatzel weitergab. Der wetterte heftig gegen Homos und CSD und fing sich deswegen eine gerichtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung ein. Flugs ging er in Revision und präsentierte dem nächst-höheren Gericht einen "Gutachter", Theologie-Professor an einer fundamentalistischen Privat-Fakultät.
Und darum geht jetzt der Streit: Die Staatsanwaltschaft lehnt den "Gutachter" wegen Befangenheit ab. Die Sache bleibt spannend. Seit Jahrzehnten.
Später - als sie via CDU in den Bundestag einzog - überreichte sie den Staffelstab an ihren fundamentalistischen Gatten, Pastor in der Martini-Gemeinde, der ihn an seinen ebenfalls fundamentalistischen Nachfolger Olaf Glatzel weitergab. Der wetterte heftig gegen Homos und CSD und fing sich deswegen eine gerichtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung ein. Flugs ging er in Revision und präsentierte dem nächst-höheren Gericht einen "Gutachter", Theologie-Professor an einer fundamentalistischen Privat-Fakultät.
Und darum geht jetzt der Streit: Die Staatsanwaltschaft lehnt den "Gutachter" wegen Befangenheit ab. Die Sache bleibt spannend. Seit Jahrzehnten.
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Sonntag, 12. Mai 2024
Beethoven für alle
jf.bremen, 14:00h
Ich liebe Musik. Ja, ich liebe wirklich Musik. Gestern kam eine Hass-Welle in mir auf. Die Bremer Innenstadt quoll über von Touristen, die das verlängerte Wochenende nach Himmelfahrt bei strahlendem Wetter genossen.
In Bremens guter Stube, dem Markt, versuchten zwei Ziehharmonikaspieler, die Stimmung zusätzlich zu heben. Sie lieferten sich eine Art Wettkampf, in dem sie beide gleichzeitig auf dem ganzen Platz zu hören waren, keineswegs unisono oder harmonisch.
Der eine spielte den Ohrwurm „Bell ciao“, das ging noch an, wenn ich es auch schon schmissiger gehört habe. Der andere spielte – für eine Ziehharmonika sowieso schon gänzlich unangemessen – den Schlusschor von Beethovens 9., die „Ode an die Freude“. Schon allein schlimm genug, das Schlimmste war: Er betonte den Takt so, dass ein Marschrhythmus dabei herauskam!
Ich schwankte zwischen Aggression und Kritik durch Zustimmung. Eine wie auch immer geartete Aggression widerspricht meinem Temperament und hätte den Touristen die Laune verdorben. Ich überlegt, dem „Musiker“ eine Münze in den Koffer zu werfen in der Hoffnung, dass er dann aufhören würde. Dann überlegte ich, dass er das als Aufmunterung missverstehen würde. Ich unterließ beides und machte mich möglichst schnell aus dem Getümmel.
In Bremens guter Stube, dem Markt, versuchten zwei Ziehharmonikaspieler, die Stimmung zusätzlich zu heben. Sie lieferten sich eine Art Wettkampf, in dem sie beide gleichzeitig auf dem ganzen Platz zu hören waren, keineswegs unisono oder harmonisch.
Der eine spielte den Ohrwurm „Bell ciao“, das ging noch an, wenn ich es auch schon schmissiger gehört habe. Der andere spielte – für eine Ziehharmonika sowieso schon gänzlich unangemessen – den Schlusschor von Beethovens 9., die „Ode an die Freude“. Schon allein schlimm genug, das Schlimmste war: Er betonte den Takt so, dass ein Marschrhythmus dabei herauskam!
Ich schwankte zwischen Aggression und Kritik durch Zustimmung. Eine wie auch immer geartete Aggression widerspricht meinem Temperament und hätte den Touristen die Laune verdorben. Ich überlegt, dem „Musiker“ eine Münze in den Koffer zu werfen in der Hoffnung, dass er dann aufhören würde. Dann überlegte ich, dass er das als Aufmunterung missverstehen würde. Ich unterließ beides und machte mich möglichst schnell aus dem Getümmel.
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Freitag, 10. Mai 2024
Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit
jf.bremen, 14:01h
Unsere – naja, meine nicht – Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ist bisher nicht durch besondere Aktivitäten in Erscheinung getreten. Jetzt aber haut sie mächtig auf die Pauke: Eine Gruppe von ca. 300 Hochschulangehörigen hat sich für die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit eingesetzt, ohne gegen die Mörderattacke der Hamas gegen Israel am 7. Oktober protestiert zu haben. Das geht doch überhaupt nicht, findet Stark-Watzinger.
Sie betont, dass diese DozententInnen nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stünden. Na, da stimmt doch was nicht! Im Grundgesetz steht, dass in Deutschland Meinungs- und Demonstrationsfreiheit besteht. Nicht enthalten ist die Verpflichtung, sich bei jeder Äußerung gegen die Hamas auszusprechen.
Das macht es so schwierig, sich zu Israel, Palästina und zum 7. Oktober zu äußern. Die Antisemitismus-Keule wird bei jedem kritischen Satz geschwungen. Wer sich zu dem Gasa-Krieg, zu der gegenwärtigen Katastrophe (Tötung, Vertreibung, Verwüstung, Hunger, Durst, zerstörte Kliniken) und für den Frieden ausspricht, wird Ruck-Zuck in den Antisemiten-Sack gesteckt und verprügelt.
Ja, der 7. Oktober war eine Katastrophe. Ja, die Hamas ist eine terroristische Vereinigung. Und ja, das Leiden der palästinensischen Bevölkerung ist kaum zu fassen. Und ja, das Leiden Palästinas dauert seit der Nakba 1948 an. Ja, die gegenwärtige israelische Regierung macht alles immer noch schlimmer. Und ja, ich bin kein Antisemit, sondern ein Freund Israels und vieler Israelis. Ja, ich habe mich seit 1985 für die deutsch-israelischen Beziehungen aktiv eingesetzt, auch für den israelisch-palästinensischen Dialog.
Ja, ich habe Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, wenn ich mich jedes Mal von irgendetwas distanzieren muss. Und ich lasse mir nicht von Stark-Watzinger vorschreiben, ob und, wenn ja, wann ich „auf dem Boden des Grundgesetzes stehe.“ Wenn nicht, dann kann das ein Gericht entscheiden! Und niemand anderes.
Sie betont, dass diese DozententInnen nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stünden. Na, da stimmt doch was nicht! Im Grundgesetz steht, dass in Deutschland Meinungs- und Demonstrationsfreiheit besteht. Nicht enthalten ist die Verpflichtung, sich bei jeder Äußerung gegen die Hamas auszusprechen.
Das macht es so schwierig, sich zu Israel, Palästina und zum 7. Oktober zu äußern. Die Antisemitismus-Keule wird bei jedem kritischen Satz geschwungen. Wer sich zu dem Gasa-Krieg, zu der gegenwärtigen Katastrophe (Tötung, Vertreibung, Verwüstung, Hunger, Durst, zerstörte Kliniken) und für den Frieden ausspricht, wird Ruck-Zuck in den Antisemiten-Sack gesteckt und verprügelt.
Ja, der 7. Oktober war eine Katastrophe. Ja, die Hamas ist eine terroristische Vereinigung. Und ja, das Leiden der palästinensischen Bevölkerung ist kaum zu fassen. Und ja, das Leiden Palästinas dauert seit der Nakba 1948 an. Ja, die gegenwärtige israelische Regierung macht alles immer noch schlimmer. Und ja, ich bin kein Antisemit, sondern ein Freund Israels und vieler Israelis. Ja, ich habe mich seit 1985 für die deutsch-israelischen Beziehungen aktiv eingesetzt, auch für den israelisch-palästinensischen Dialog.
Ja, ich habe Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, wenn ich mich jedes Mal von irgendetwas distanzieren muss. Und ich lasse mir nicht von Stark-Watzinger vorschreiben, ob und, wenn ja, wann ich „auf dem Boden des Grundgesetzes stehe.“ Wenn nicht, dann kann das ein Gericht entscheiden! Und niemand anderes.
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Mittwoch, 3. April 2024
Bilder als Waffen
jf.bremen, 15:38h
Seit fast exakt zwei Jahren wissen wir, dass russischen Soldaten extrem grausam mit ihren gefangenen Feinden umgehen. Nach der Rückeroberung von Butscha durch die ukrainische Armee kursieren die Bilder von gefesselt erschossenen, totgeprügelten, vergewaltigten Menschen. Diese Bilder entstanden nach der Rückeroberung der Stadt.
Jetzt sehen wir, dass russische „Sicherheitskräfte“ coram publico – in aller Öffentlichkeit – Beweise ihrer Grausamkeit präsentieren. Die ersten vier wegen des Attentats auf die Konzerthalle bei Moskau Festgenommenen wurden öffentliche vorgeführt. Sie wiesen deutliche Spuren von Misshandlungen bzw. Folter auf: Schwere Blutergüsse, Platzwunden, zugequollene Augen. Die Bilder sollten vor allem der russischen Öffentlichkeit zeigen: Seht an, so geht es allen, die sich gegen Putin und seinen Apparat auflehnen. Ein anderes Zeichen war der Leichnam des Oppositionellen Navalny.
Der gleichen Logik folgt die Hamas im Gasakrieg. Die Bilder von Leichen, Verstümmelten, Vergewaltigten, Hungernden gehen um die Welt. Die Hamas zeigt, was es bedeutet, gegen sie vorzugehen. Sie sollen die Grausamkeit der israelischen Armee beweisen. Sie sollen vergessen machen, dass die Hamas mit ihrem Überfall vom 7. Oktober derlei provoziert hat.
Jetzt sehen wir, dass russische „Sicherheitskräfte“ coram publico – in aller Öffentlichkeit – Beweise ihrer Grausamkeit präsentieren. Die ersten vier wegen des Attentats auf die Konzerthalle bei Moskau Festgenommenen wurden öffentliche vorgeführt. Sie wiesen deutliche Spuren von Misshandlungen bzw. Folter auf: Schwere Blutergüsse, Platzwunden, zugequollene Augen. Die Bilder sollten vor allem der russischen Öffentlichkeit zeigen: Seht an, so geht es allen, die sich gegen Putin und seinen Apparat auflehnen. Ein anderes Zeichen war der Leichnam des Oppositionellen Navalny.
Der gleichen Logik folgt die Hamas im Gasakrieg. Die Bilder von Leichen, Verstümmelten, Vergewaltigten, Hungernden gehen um die Welt. Die Hamas zeigt, was es bedeutet, gegen sie vorzugehen. Sie sollen die Grausamkeit der israelischen Armee beweisen. Sie sollen vergessen machen, dass die Hamas mit ihrem Überfall vom 7. Oktober derlei provoziert hat.
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Donnerstag, 7. März 2024
Ikonen des Widerstands
jf.bremen, 18:25h
Als ich vor etlicher Zeit erstmalig das Bild von der Verhaftung einer jungen farbigen Frau durch weiße Polizisten in Baton Rouge sah, fiel mein – männlicher – Blick zunächst auf die optisch dominante Frau, u.a. weil sie optisch isoliert war, vor allem aber, weil sie für mich der interessanteste Bildteil war.

Die Autorin eines Artikels der taz (taz vom 14.7.2016, S. 13) „Ikonen des Widerstands“ behauptete dagegen, das Bild werde – quasi wie ein Text – von links nach rechts gelesen. Ich vermute dagegen, dass ihr – weibliches - größtes Interesse den Polizisten galt.
Die weit verbreitete Meinung, Bilder würden wie Texte gelesen, ist längst überholt. Bereits Andreas Feininger berichtet in „Kompositionskurs der Fotografie“ (1974) von Untersuchungen mit Augenkameras, die die Augenbewegungen beim Betrachten eines Bildes aufzeichnen. Danach nehmen die meisten, wenn nicht alle Betrachter zunächst den Bildteil des größten Interesses in den Blick. Erst dann betrachten sie die Einzelheiten des Bildes genauer und zwar keineswegs planvoll, sondern auf der Bildfläche vagabundierend. Ernst Weber („Sehen, Gestalten und Fotografieren“ 1990) bestätigt das: „Ecken und Winkel (bilden) die markantesten Signale für das Erkennen und (…) für die Speicherung im Gehirn.“ Der Sehweg verläuft nach einem Schema, das von Person zu Person und von Vorlage zu Vorlage variiert.
Die Versuche von Röll/Wolf „Bildgestaltung“ (1993) sind deswegen nicht beweiskräftig, weil sie den Probanden nicht Bilder, sondern Zahlenreihen vorlegten, die tatsächlich wie Texte gelesen werden: von links oben nach rechts unten.
Derlei Erkenntnisse von anerkannten Koryphäen sollten nicht einfach unterschlagen werden. Näheres siehe http://www.kunst-fotografie.com/#bildgestaltung.

Die Autorin eines Artikels der taz (taz vom 14.7.2016, S. 13) „Ikonen des Widerstands“ behauptete dagegen, das Bild werde – quasi wie ein Text – von links nach rechts gelesen. Ich vermute dagegen, dass ihr – weibliches - größtes Interesse den Polizisten galt.
Die weit verbreitete Meinung, Bilder würden wie Texte gelesen, ist längst überholt. Bereits Andreas Feininger berichtet in „Kompositionskurs der Fotografie“ (1974) von Untersuchungen mit Augenkameras, die die Augenbewegungen beim Betrachten eines Bildes aufzeichnen. Danach nehmen die meisten, wenn nicht alle Betrachter zunächst den Bildteil des größten Interesses in den Blick. Erst dann betrachten sie die Einzelheiten des Bildes genauer und zwar keineswegs planvoll, sondern auf der Bildfläche vagabundierend. Ernst Weber („Sehen, Gestalten und Fotografieren“ 1990) bestätigt das: „Ecken und Winkel (bilden) die markantesten Signale für das Erkennen und (…) für die Speicherung im Gehirn.“ Der Sehweg verläuft nach einem Schema, das von Person zu Person und von Vorlage zu Vorlage variiert.
Die Versuche von Röll/Wolf „Bildgestaltung“ (1993) sind deswegen nicht beweiskräftig, weil sie den Probanden nicht Bilder, sondern Zahlenreihen vorlegten, die tatsächlich wie Texte gelesen werden: von links oben nach rechts unten.
Derlei Erkenntnisse von anerkannten Koryphäen sollten nicht einfach unterschlagen werden. Näheres siehe http://www.kunst-fotografie.com/#bildgestaltung.
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