Sonntag, 13. Juni 2021
Kolonie Ostdeutschland?
Vor wenigen Monaten - genau am 3.Oktober - jährt sich das Datum der formellen Vereinigung der beiden deutschen Staaten zum 30. Mal. Vor und nach diesem Datum wurden immer wieder Stimmen laut, die diesen Vorgang für die "Kolonisierung" Ostdeutschlands durch Westdeutschland hielten.

Der Begriff ist schief. Kolonisierung trifft z.B. für Namibia zu: Dort wurden zunächst christlich-protestantische Geistliche aktiv, dann Kaufleute und schließlich die kaiserliche deutsche Regierung. Die Bevölkerung des damaligen "Deutsch-Südwest-Afrika" wurde nie gefragt, stattdessen aufs Grausamste unterdrückt. Als sie sich wehrte, setze der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts ein. Zwischen 50- und 100tausend Menschen wurden ermordet. So sah Kolonisierung aus. Wäre Kaiser Wilhelm II. nach "Deutsch-Südwest" gereist, hätten die einheimischen Völker ihn sicher nicht mit "Wilhelm, Wilhelm"-Rufen begrüßt.

Ganz anders in Deutschland 1990. Bei seinem ersten Besuch in Ostdeutschland wurde Bundeskanzler Kohl von Demonstranten in ostdeutschen Städten mit begeisterten "Helmut, Helmut"-Rufen begrüßt. Im Gegenzug versprach er ihnen "blühende Landschaften". Ein erster Schritt zur Vereinigung war die sog. Wirtschafts-, Währungs- und Sozial-Union im Frühsommer 1990, mit der die Grundlagen für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West erreicht werden sollte. Erreicht ist das bis heute nicht. Löhne und Renten sind im Osten immer noch niedriger als im Westen.

Im Dezember 1990 wurden Bundestagswahlen in ganz Deutschland durchgeführt, bei denen die CDU und Kohl souverän gewannen. Die Wiederwahl Kohls war vorher in Westdeutschland durchaus unsicher. Es waren die ostdeutschen Wählerstimmen, die ihm die erneute Kanzlerschafft retteten. So weit sah alles demokratisch aus.

Aber dann kamen die Kolonisatoren in Form der "Treuhand-Gesellschaft" und westdeutschen Kapitals. Und zwar erst dann. Der ganze Prozess lief also genau umgekehrt als in Namibia.

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