Donnerstag, 7. Juni 2018
Zensoren sind blind
Vor Jahren wurde uns in einem Film-Seminar von einem kritischen Regisseur aus der DDR ein Film vorgeführt als Beispiel für Methoden, die Zensur zu unterlaufen:

Gezeigt wird ein Ost-Berliner Friedhof. Menschen sitzen auf Bänken und lesen, essen ihr Pausenbrot, flanieren, unterhalten sich gedämpft. Man hört Schritte auf Kies, Vögel zwitschern und singen, Windgeräusche in den Bäumen.

Gefilmt wird mit subjektiver Kamera aus der Sicht eines Besuchers. Dann verlässt er den Friedhof durch das schmiedeeiserne Tor: Straßenlärm, das typische Trabant-Geräusch, eine triste Straße mit ebenso tristen Altbauten. Man riecht förmlich den Braunkohlen- und 2-Takt-Mief.

Die Botschaft: Auf dem Friedhof ist Leben, Stille und Frieden, draußen ist öde DDR. – Der Regisseur versicherte uns, das Publikum habe die Botschaft verstanden. Nur nicht die Zensoren, denn es wird nicht ein kritisches Wort über die DDR gesprochen. Der Film jedoch passierte ungeschoren sämtliche Zensur-Instanzen.

Aktuelles Beispiel: „Der Geschmack von Zement“. Ein düsterer – wenn auch Farb-Film – über syrische Fremdarbeiter im Libanon. Der Film kommt fast ohne Worte aus, mit Ausnahme von Kommentaren des Regisseurs und fiktiven Tagebucheinträgen. Bild und Ton sagen alles über die Situation der dargestellten Bauarbeiter. Warum diese Kargheit des gesprochenen Wortes? Weil der Bauunternehmer Interviews mit den Arbeitern verboten hat!

Worte hätten hier nur gestört. Die Botschaft ist visuell und akustisch – auch durch Musik – eindeutig, aber da Worte fehlen, kann die Zensur nicht eingreifen.

Aber zum Glück sind Zensoren blind.

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